Informationsblatt der Blauen Gebetsoase

in Sievernich

 Oktober 2008

  

 Informationsblatt der Blauen Gebetsoase Sievernich
Oktober
2008

„…und führe uns nicht in Versuchung“?

Reinhard Körner OCD

Als ich während meines Theologiestudiums Praktikant bei einem befreundeten Gehörlosenseelsorger war, lernte ich das Vaterunser in der Gebärdensprache kennen. „Und - führe - uns - nicht – in - Versuchung ...“, betete der Priester gut artikuliert der Gemeinde der Taubstummen vor, sodass sie ihm den Vers von den Lippen ablesen konnten, unterstützt durch entsprechende Zeichen seiner Hände. Bei dem Wort „Versuchung“ machte er eine Geste, die ich aus Illustrationen zum Märchen Hänsel und Gretel kannte: Wie die Hexe, die die Kinder in ihr Häuschen lockt, krümmte er den Zeigefinger...

Zum ersten Mal wurde mir damals bewusst, was ich an dieser Stelle eigentlich bete. Ich bitte Gott, er möge mich nicht, wie die Hexe im Märchenbuch, verführen und zum Bösen anstiften. Später in der Seelsorge hörte ich von vielen Christen, auch sie hätten sich schon so manches Mal gefragt: Kann denn Gott den Menschen in Versuchung führen?
Die katholische Wochenzeitung Christ in der Gegenwart veröffentlichte 1996 einige Leserbriefe, in denen die Absender ihre selbst zurechtformulierten, in ein verständlicheres Deutsch gebrachten Vaterunser-Übertragungen vorstellten. Gerade für diesen Vers hatten alle eine neue Fassung anzubieten: „Halte mich fest in jeder Versuchung“, hieß es da zum Beispiel, oder: „Und führe uns in der Versuchung“, „Und lass uns in der Versuchung nicht fallen“ ... - Klar verständliche und tiefsinnige Gebetsworte! Aber geben sie wieder, was Jesus gemeint hat?

Es liegt auf der Hand: So wie wir den Vers heute kennen, kann Jesus nicht gebetet haben. Das wussten bereits die Beter der ersten Jahrhunderte. „Fern sei der Schein, als versuche der Herr!“, schreibt Tertullian. Wer an dieser Klarstellung Zweifel haben sollte, dem sei noch der folgende Abschnitt aus dem Brief des Herrenbruders Jakobus zitiert: „Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott kann nicht in die Versuchung kommen, Böses zu tun, und Er führt auch selbst niemand in Versuchung. Jeder wird von seiner eigenen Begierde, die ihn lockt und fängt, in Versuchung geführt“ (Jak 1,13-17).

Irgendwie und irgendwo steckt hier also der Wurm drin! Um herauszufinden, was Jesus wirklich gebetet hat, müssen wir wieder in die frühen Textfassungen schauen.

Matthäus, Lukas und die Zwölfapostellehre überliefern den Vers im haargenau gleichen Wortlaut. Wir dürfen also davon ausgehen, dass es sich um authentische Worte Jesu handelt. Im lateinischen Pater-noster - und entsprechend dann auch im deutschen Vaterunser - sind sie allerdings so unglücklich übersetzt worden, dass es zwangsläufig zum Missverständnis kommen musste. Die griechische Wendung, so sagen uns die Sprachanalytiker, die sie ins Aramäische zurück übertragen und mit ähnlichen Gebetsworten des Judentums verglichen haben, müsste ihrem wörtlichen Sinne nach folgendermaßen wiedergegeben werden: „Gib, dass wir nicht in Versuchung hineinkommen“ (Francis Bovon). Keine Rede also davon, dass Gott gebeten würde, uns nicht zu versuchen! Versuchungen kommen nicht von Gott, sie haben eine andere Ursache.

Bei meinen eigenen Quellenstudien stellte ich mit Erstaunen fest, dass der Vers bereits zur Zeit des Ambrosius, also im 5. Jahrhundert, in diesem ursprünglichen Sinne verstanden und gebetet wurde. In der von ihm überlieferten Paternoster-Fassung heißt es nicht, wie im heute gültigen lateinischen Text: „Et ne nos inducas in tentationem (Und führe uns nicht in Versuchung)“, sondern: „Et ne patiaris induci nos in tentationem“, zu deutsch: „Lass nicht zu, dass wir in Versuchung geführt werden.“ Warum ist diese treffende Übersetzung nicht übernommen worden? Stattdessen betet die Christenheit über nun schon eineinhalb Jahrtausende hin im Paternoster „Et ne nos inducas in tentationem“. Wo doch schon Origenes erläutert hatte, dieser Vers sei so zu verstehen, „dass wir der Versuchung nicht erliegen mögen“ - eine Klarstellung, die sich ähnlich lautend später auch bei Thomas von Aquin wieder findet.

Auch im deutschen Sprachraum muss den Fachleuten Ende der 1960er Jahre, als die ökumenische Fassung erarbeitet wurde, bekannt gewesen sein, dass die über Jahrhunderte hin gebräuchliche Formulierung „Und führe uns nicht in Versuchung“ eine ganz und gar unpassende Übersetzung ist. Darauf hatte der evangelische Neutestamentler Joachim Jeremias erst 1962 aufmerksam gemacht und mit Berufung auf den Jakobusbrief „dieses Verständnis scharf abgewiesen“.

Im Vergleich mit einem sehr alten jüdischen Abendgebet, das noch zur Zeit Jesu bekannt gewesen sei, war Joachim Jeremias darüber hinaus zu dem Schluss gekommen, dass es in diesem Vers „nicht um Bewahrung vor der Versuchung, sondern um Bewahrung in der Versuchung“ gehe, auch nicht darum, „dass dem Beter die Versuchung erspart bleiben möge, sondern dass Gott ihm helfen möge, sie zu überwinden“.

„Lass uns der Versuchung nicht erliegen, bewahre uns in der Versuchung“ - so hat Jesus gebetet.

Wer das Vaterunser bis zu diesem Vers meditiert und mitgebetet hat, wird nun also plötzlich darauf gestoßen, dass er „in Versuchung“ geraten kann. Was konkret mit „Versuchung“ gemeint ist, bleibt vom Text her offen: Nicht von „der Versuchung“, einer ganz bestimmten, ist die Rede, auch nicht von „den Versuchungen“, allen möglichen also, die der Lebensalltag mit sich bringt, sondern einfach von „Versuchung“.

Ich muss nun eine Art „Gewissenserforschung“ machen, oder besser: einen realistischen, ehrlichen Blick auf die Wirklichkeit meines Lebens werfen, um den Sinn dieses artikellosen Wortes verstehen zu können. Und das muss ganz persönlich geschehen. Die Frage, die sich dabei stellt, heißt: Wo steckt bei mir der Wurm drin? Was ist die Versuchung, was sind die Versuchungen meines Lebens? Da auch hier, wie schon in den beiden vorangegangenen Versen, ein „uns“ steht, muss ich dabei wohl auch an die Gemeinschaft denken, in der ich lebe, an die Familie, den Ordenskonvent, das Arbeitsteam, die Kirche, die Weltgemeinschaft: Wo also steckt bei mir und bei uns der Wurm drin?

Die jüdischen Frauen und Männer um Jesus kannten eine alte Geschichte, die von der Versuchbarkeit des Menschen erzählt. Sogar von einem „Wurm“ ist darin die Rede, von dem nämlich, der der wahre Urheber der Versuchung - jeder Versuchung - ist. Die Geschichte stand in der Tora-Rolle und steht heute auf den ersten Seiten der Bibel (Gen 3,1-24). Sie erzählt von Adam und seiner Frau und von der listigen Schlange, dem Wurm, der die beiden mit den Worten verführt: „Ihr werdet sein wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ Richtiger, der Aussageabsicht der Erzähler entsprechender, müssen wir diese Verlockung so übersetzen: „... und ihr werdet selbst entscheiden, was gut und was böse ist.“

Adam ist kein Name, schon gar nicht der Name des ersten Menschen, so wissen wir heute; „adam“ heißt: „der Erdling“, der aus „adama“, dem „Erdboden“ Geschaffene. Adam ist jeder Mensch. Und die Schlange ist nicht, wie Juden und Christen lange glaubten, der Teufel - der tritt in der Bibel erst in den Spätschriften des Ersten Testaments auf. Als die Erzählung um das Jahr 900 v. Chr. entstand, war die Schlange das Tiersymbol für eine Haltung des Menschen; da sie dem, der ihr begegnet, das Leben lassen oder blitzschnell den Tod bringen kann, verkörperte sie die Haltung des Herrseins über Tod und Leben und somit auch über Gut und Böse. Bekannt ist uns diese Symbolik bereits aus dem alten Ägypten, wo der Pharao und seine Kinder als Zeichen ihrer selbstherrlichen Macht über die Untertanen eine goldene Stirnschlange trugen. In der jüdischen Erzählung vom Sündenfall ist die Schlange dementsprechend zum Bild für das bösartige „Herrsein“ des Menschen geworden, für die Macht des Bösen im Menschen selbst.

Das Böse, so erzählt diese Geschichte, entsteht im Menschen dadurch, dass er eine höhere „Mitte“ - im Bild: den „Baum des Lebens in der Mitte des Gartens“ - nicht respektiert und sich selbst zum Mittelpunkt macht und zum Maß aller Dinge.

In dir, du Erdling Mensch, sagt also die alte Weisheit der Bibel, steckt der Wurm drin! Die Versuchung zum Bösen kommt daher, dass du die Lebens-Mitte des Gartens, in dem du zusammen mit allen Geschöpfen wohnst, ignorierst und dich selbst zum Mittelpunkt machst, um den sich alles bewegen soll.

Und die Moral von der Geschicht' ist zeitlos gültig. „Die Paradiesgeschichte“, sagt der katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas, „ist eine Urgeschichte, die in jede Menschengeschichte neu hineinspielt“. Sie spricht von einer „menschlichen Grundbeschaffenheit“, denn „die Erzählungen der Urgeschichte sind Geschichten eines 'mitlaufenden Anfangs', der jeder Zeit gleichzeitig bleibt“.

Teresa von Avila ist der Meinung, es seien nicht die Versuchungen von außen, um die es dem Lehrmeister Jesus hier gehe. Denen solle man sich tapfer wie ein „Soldat Christi“ stellen. Mit ehrlichem Blick auf sich selbst und ihre Schwestern weiß auch sie: Wovor uns der göttliche Vater bewahren muss, sind die Versuchungen von innen.

Der Vers „und führe uns nicht in Versuchung“, mit dem das Vaterunser in der Lukasfassung endet, ist alles andere als eine Bitte. Für den, der bis hierher in die Gebetsschule Jesu gegangen ist und sich nun bewusst macht, wie schnell ihm all das Große, Kostbare und Herrliche, das er da erkannt und empfangen hat, aufgrund seines inneren Wurms und der realen Lebensumstände wieder aus dem Herzen gleiten kann, ist dieser Satz geradezu ein Notschrei. Hier geht es nicht, wie in einer Bitte, um „etwas“, das Gott auf unser Bitten hin geben oder auch nicht geben möge, hier geht es um alles! Dieser Vers ist „ein dringlicher Hilferuf von Jüngern, die die Gefahr unmittelbar nah sehen“, schreibt Heinz Schürmann. Der Erfurter Vaterunser-Forscher war der Meinung: „Die in der letzten Bitte des Gebetes genannte Versuchung muss - wie wir das auch den beiden vorstehenden Bitten anmerkten - in Beziehung stehen zu dem Hauptwunsch nach dem Kommen des Reiches. Damit wird die Gefahr des Schwundes dieser Hoffnung, des Glaubens an seine anstehende Nähe, des Abfalls von Jesus nunmehr die große Versuchung sein, in der die so dringlich herbeigerufene Hilfe notwendig wird. ... Es geht also in unserem Flehruf nicht um 'Versuchungen', die überall und immer Menschen bedrohen können, nicht primär um alle Anreizungen zur Sünde, sein, in der die so dringlich herbeigerufene Hilfe notwendig wird. ... Es geht also in unserem Flehruf nicht um 'Versuchungen',

die überall und immer Menschen bedrohen können, nicht primär um alle Anreizungen zur Sünde, sondern im Schatten der Bitte um das Kommen des Reiches doch wohl viel konkreter um das Ganze der Jüngerexistenz. Es geht hier um Bewahrung im Jüngerstand, um Behütung vor Glaubensabfall.“

Weder im Jüngerkreis und bei den vielen im Volk, die Jesus zuhörten, noch in den frühchristlichen Gemeinden kann die Gefahr des „Glaubensabfalls“ darin bestanden haben, dass da einer hätte zum Atheisten werden können; der Glaube an Gott war mit Selbstverständlichkeit in Herz und Verstand dieser Menschen. Aber der Abba-Gott, den sie durch Jesus erkannt hatten, das neue Gottesbild und damit verbunden die so befreiende Sicht von sich selbst, vom Mitmenschen, von der Schöpfung, vom religiösen Leben, all das, was sie als Frohbotschaft vom Reich Gottes gehört hatten - das konnten auch damals „die Vögel wegfressen“ und „die Dornen ersticken“ (Mt 13.1-9). Der Rückfall in das Gottesbild menschlicher Projektionen, zumindest in die Schieflage zwischen einem einerseits liebenden und andererseits strafrichtenden Gott, der Rückfall in Leistungsfrömmigkeit und Werkgerechtigkeit, in pharisäische Überheblichkeit, in ängstliche Gottesfurcht und knechtische Verdemütigung - das war und das ist bis heute die Versuchung des Christen und seiner Gemeinschaft, der Kirche.

Und immer und bei allem schleicht sich die Versuchung ein, zwar über Gott nachzudenken und von Gott zu reden, doch nicht (mehr) mit ihm zu leben. Wie schnell wird aus dem Mystiker wieder der Dogmatiker, der Moralist und der Gottesdienst-“Besucher“ und aus dem Gottesmann in der Kirche der Kirchenmann. Wie schnell wird das auf sich selbst zentrierte Ego zum Maß aller (geistlichen, kirchlichen und weltlichen) Dinge...

Abha, du, lass uns nicht zurückfallen in das armselige Knechts-Dasein, in dem wir lebten, bevor wir Jünger deines Sohnes wurden - das meint der Hilferuf am Ende des Unser-Vater-Gebetes Jesu! Dass Gott „uns nicht zurückfallen und der Anfechtung und Versuchung weichen lasse“, darum geht es; denn „Versuchung und Reizung kann niemand umgehen, solange wir im Fleische leben ... Aber dafür bitten dürfen wir, dass wir nicht hineinfallen und darin ersaufen.“

„Zurechtbeten“ (Heinz Schürmann) muss sich diesen Vers jeder selbst, je nach der konkreten persönlichen und gemeinschaftlichen Art seines - und unseres - “Wurms“, seiner und unserer Versuchung, aus dem „Paradies“ zu fallen.

Auch die Christen um Matthäus haben sich diesen Vers zurechtgebetet. Sie fügten dem Hilferuf die Worte hinzu: „...sondern erlöse uns von dem Bösen!“

Die Vokabel, die im heutigen Gebetstext mit „erlösen“ wiedergegeben wird, bedeutete im Sprachempfinden der griechisch sprechenden Christen so viel wie „retten, befreien, hinwegreißen von ...“; mit „libera nos - befreie uns“ gibt sie das lateinische Paternoster wieder. Und mit dem „Bösen“ sind nicht allerlei „Übel“ gemeint, Krankheiten, Misserfolge und sonstige Widerwärtigkeiten des Lebens, also - eine Übersetzung, die die älteren Leser und Leserinnen noch kennen; auf dem Hintergrund der soeben bewusst gewordenen Versuchbarkeit, von der der ursprüngliche Schlussvers sprach, haben die frühchristlichen Beter wohl eher an die „Macht des Bösen“ gedacht, an diesen Wurm im Menschenherzen, der alles wieder zerstören kann, was sie als das Reich Gottes erfahren hatten.

„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“, das bedeutet: Und, du, lass uns nicht zurückfallen in ein Leben ohne dich, Abba, du wunderbarer Gott...

 

Belehrung der Hl. Teresa von Avila am 23.08.2004 in Sievernich zum Vaterunser

und führe uns nicht in Versuchung ...

„Gott, die Liebe, versucht nicht. Gott, unser Vater, lässt Prüfungen zu. In dieser Zulassung sollst du reifen und erkennen, wie groß Er ist und wie gering du bist. Diese Läuterungen dienen dir zum Heil. Nimm sie geduldig an!“

 

sondern erlöse uns von dem Bösen ...

„Meide das Böse, und lass dich nicht auf die Finsternis ein. Hast du Böses getan, so suche die Vergebung in Gott. So wirst du erlöst von dem Bösen.“